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Blick in die Abgründe
Früher untersuchte er als Staatsanwalt Tötungsdelikte, heute dreht
sich alles um Tragödien am Berg: Gregor Benisowitsch liefert Gutachten,
wenn ein Abenteuer vor Gericht endet.
Wer war schuld? Suche nach einer verschütteten Person in der Region Tête de
Balme,Wallis, 2001.
Foto: Reuters
Eigentlich kann man froh sein, wenn man Gregor Benisowitsch nie begegnet.
Zumindest nicht, wenn er beruflich –unterwegs ist: Der Anwalt und Präsident
der Schweizerischen Fachstelle für –Alpinrecht ist ein penibler Meister der
Rekonstruktion, und er kommt dann zum Einsatz, wenn in den Schweizer Bergen ein
Unglück passiert ist und das Abenteuer vor Gericht endet. Als Anwalt
vertritt er entweder Hinterbliebene oder auch
angeklagte Bergführer. Und als Gutachter rekonstruiert er den
Hergang von Bergunfällen – zum Beispiel dann, wenn die
Versicherung einer Witwe die Rente um die Hälfte kürzen will,
weil ihr Mann ein zu hohes Risiko eingegangen sei. Bei solchen
juristischen Streitereien sind fachliche Gutachten zentral. Und Benisowitsch
gilt als einer der Besten seines Fachs.
«Manchmal ruft mich ein Bergführer noch von der Unfallstelle aus an und fragt,
ob ich seinen Fall übernehmen kann», sagt der 58–Jährige, der in einem
schlichten Büro neben dem Bahnhof Thalwil arbeitet. Es gebe gar Fälle, bei denen
ihn alle beteiligten Parteien als Gutachter oder als Anwalt engagieren wollten.
Nein, Benisowitsch, braun −gebrannt und durchtrainiert, fällt nicht durch
Bescheidenheit auf. Er lacht, als er darauf angesprochen wird. «Ich darf doch zu
meinen Leistungen stehen, oder?»
Was ist tatsächlich passiert?
Einer seiner letzten Fälle war medienwirksam: Benisowitsch schrieb ein
Gutachten für die Hinterbliebenen des ehemaligen McDonald´s–Schweiz–Chefs, der
vor sechs Jahren bei einer Mountain−biketour im Berner Oberland zu Tode stürzte.
Zusammen mit einem Bike–Experten kam Benisowitsch zum Schluss, dass die
Organisatoren der −Biketour ihre Aufsichtspflicht verletzt hatten, worauf die
Angehörigen eine Strafanzeige wegen fahrlässiger Tötung einreichten – der Fall
liegt zurzeit beim Berner Obergericht.
Meistens findet seine Arbeit jedoch nicht im Licht der Öffentlichkeit statt.
Seit der Jurist 1993 seine Dissertation über die strafrechtliche Beurteilung von
Bergunfällen publiziert hatte, verfasste er rund 100 Gutachten, viele davon
behandelten Unfälle in Kletterwänden, bei Hochtouren oder auf Skipisten. Immer
geht es um die Frage: Was ist tatsächlich passiert? Wie war das Wetter, die
Lawinensituation, die Ausrüstung? Wo sind falsche Entscheide gefällt worden?
Und vor allem natürlich: Wer war schuld? «Mein Gutachten kann in die eine oder
andere Richtung gehen, ich lasse mich nicht kaufen», sagt Benisowitsch. Sein Ruf
stehe auf dem Spiel, und man glaubt ihm sofort, dass er diesen nicht gefährden
will. Wenn er nach einer ersten Prüfung der genauen Umstände anderer Meinung sei
als der Auftraggeber, nehme er den Auftrag nicht an.
Der 58–jährige Gregor Benisowitsch war früher selbst Extrembergsteiger und
hat sich als Anwalt auf Bergunfälle spezialisiert.
Er führt ein Büro in Thalwil.
Foto: Brigitte Benisowitsch
Um Aufschluss über den Unfallhergang zu erhalten, reichen die Untersuchungsakten
oftmals nicht aus. Normalerweise besichtigt der Alpinexperte die Unfallstelle
vor Ort und spricht mit −Zeugen. Bei Kletterunfällen klettert er die Routen
nach, schaut sich die Standplätze an, manchmal rekonstruiert er die Situation in
einer Halle. Viele Aspekte seien wichtig, von der Routenwahl und Taktik über das
Lawinenbulletin bis zur Steilheit des Hanges. Er überprüfe jedes Detail und
messe alles nach. Manchmal kommen auch die Beteiligten mit und demonstrieren,
was sie getan oder unterlassen haben. «Wenn etwas passiert ist, muss abgeklärt
werden, ob die Verantwortlichen ihre Sorgfaltspflichten verletzt haben», sagt
Benisowitsch. Nur bei fahrlässigem Verhalten könne es zu einer Verurteilung
kommen. Schwierig sei vor allem die Beurteilung von sogenannten
Gefahrengemeinschaften: wenn eine Gruppe von gleichgestellten Leuten gemeinsam
eine Bergtour unternimmt und dabei verunfallt. Denn, so Benisowitsch: «Oft gibt
es in solchen Gruppen kein Leistungsgefälle und keine finanziellen Interessen».
Juristisch gesehen, schliesst eine Seilschaft aber einen Vertrag ab: Man hat die
Pflicht, aufeinander aufzupassen und einander vor Gefahren zu schützen. Nur wenn
nachgewiesen werden kann, dass diese Pflicht von den Überlebenden nicht
wahrgenommen wurde, ist eine Verurteilung möglich. «Bei Kletterunfällen ist es
häufig so, dass der Seilschaftspartner das Sicherungsgerät unkorrekt bedient
hat», sagt Benisowitsch.
Erste Bergtour mit vier
Der ehemalige Extrembergsteiger ist für seine Arbeit oft im Helikopter
unterwegs, aus Kostengründen, wie er sagt: Ein sechsminütiger Flug ist günstiger
als ein sechsstündiger Aufstieg, der mit −einem Anwaltshonorar beglichen werden
muss. Für die Begehung der Routen müsse er jedoch fit bleiben, und der
Grundstein dafür wurde schon früh gelegt: Als Benisowitsch vier Jahre alt war,
nahm ihn sein Vater das erste Mal auf eine Bergtour mit. Mit sechs stand er auf
dem Glärnisch, und im selben Jahr folgte der erste Dreitausender. Mit achtzehn
durchstieg er als Seilschaftsführer die Badile–Wand, eine der vier klassischen
Nordwände der Alpen. «Mein Vater wurde regelmässig von den Bergführern
beschimpft, weil er mich schon so früh mitnahm», sagt der heutige
Sicherheitsexperte. Seinen vier Kindern hätte er das nie gestattet – obwohl er
ohne den Vater wohl nie zum Extrembergsteiger geworden wäre, dessen Name in
Kletterkreisen so bekannt ist.
In seiner täglichen Arbeit ist der Gutachter regelmässig mit dem Tod
konfrontiert, er sieht Bilder von verdrehten Lawinenopfern und zerschmetterten
Körpern. Damit könne er umgehen, sein früherer Beruf habe ihn darauf
vorbereitet: Benisowitsch war sieben Jahre lang Untersuchungsrichter in Zürich
und war beim Pikettdienst regelmässig einer der Ersten an einem Tatort. Bei
sechs Tötungsdelikten leitete er die Untersuchung, bis auf einen Mord in der
Agglomeration von Zürich wurden alle aufgeklärt: «Meine Frau war damals
Arztassistentin und gab mir den Tipp, bei Obduktionen die Toten ganz
wissenschaftlich zu betrachten und die Emotionen,
so gut es geht, zu verdrängen.»
Zur Beweisführung bis in die Anden gereist
Noch heute konzentriert er sich bei der Arbeit auf die Ausrüstungsgegenstände
der Verunglückten und versucht, die Tragödie dahinter auszublenden. «Das gelingt
mir eigentlich ganz gut. Die Konfrontation mit den Angehörigen hingegen geht mir
immer sehr nah.»
Als Untersuchungsrichter in der Abteilung für Wirtschaftsdelikte eröffnete
Benisowitsch damals die Strafuntersuchung gegen die Swissair–Spitze. Heute
erlebt er Genugtuung, wenn seine Detailversessenheit belohnt wird. Für einen
Fall, den er bearbeitete, reiste er bis in die Anden, um zu beweisen, dass die
Skigebiete dort ihre Pisten mit ungefährlichem Holz markieren – und nicht mit
Eisenstangen. Nicht zuletzt dank dieser Information gewann der Anwalt einer
Geschädigten den Prozess über eine hohe Geldforderung gegen ein
Bergbahnunternehmen in der Schweiz, das die Pisten mit ebensolchen Eisenstangen
sicherte und behauptete, dass das bei den Windverhältnissen im Hochgebirge nicht
anders möglich sei.
(Tages–Anzeiger)
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